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Über das Ethos der Kirchentöne

Von Markus Bautsch

Schon in der Antike wurden in der Musik verschiedene Tonarten (Modi) verwendet. Der Philosoph Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) schrieb:

- Wir fühlen uns innerlich verändert, umgewandelt, wenn wir Musik hören. Wie könnte das geschehen, wenn nicht Harmonie und Rhythmen eine innere Verwandtschaft mit der Seele und ihren Zuständen und Bewegungen hätte ?

- Die Musik besitzt die Fähigkeit, dem Gemüte eine bestimmte sittliche Beschaffenheit zu geben.

- Die musikalischen Modi unterscheiden sich wesentlich voneinander, und diejenigen, die sie hören, werden durch jeden Modus anders beeinflusst. Einige Modi machen Menschen traurig und bedrückt,…; andere schwächen den Verstand, …; andere erzeugen wiederum einen gemäßigtes oder bereinigtes Gemüt, …; ein weiteres spornt die Begeisterung an.

Die vier Kirchentonarten mit ihren acht Modi

Auch die acht Kirchentöne sind älter als die heute in der Regel verwendeten Tonarten Dur und Moll und werden vor allem beim Gregorianischen Gesang verwendet, der von einer Choralschola oder einem Kantor vorgetragen wird. Sie sind paarweise in die vier Kirchentonarten (oder Kirchentongeschlechter) Protus, Deuterus, Tritus und Tetrardus zusammengefasst. In jedem Paar gibt es einen sogenannten authentischen Ton, bei dem die Melodie nicht oder kaum unter den Grundton fällt, und einen tiefer liegenden plagalen Ton, bei dem die Melodie in der Regel viele Töne auch unter dem Grundton verwendet und der in der griechischen Bezeichnung mit der Vorsilbe „hypo-” versehen ist. Die griechischen Synonyme (unten in Klammern angegeben) für die Kirchentonarten gehen auf die Antike zurück, sind aber seit dem Mittelalter für andere Tonleitern als in der Antike verwendet worden. Der mittelalterliche Benediktiner und Musiktheoretiker Guido von Arezzo präferiert in seinem Micrologus die numerischen Bezeichnungen für die vier Kirchentonarten und acht Kirchentöne:


  • 1. Ton: Protus authenticus (dorisch)
  • 2. Ton: Protus plagalis (hypodorisch)

  • 3. Ton: Deuterus authenticus (phrygisch)
  • 4. Ton: Deuterus plagalis (hypophrygisch)

  • 5. Ton: Tritus autenticus (lydisch)
  • 6. Ton: Tritus plagalis (hypolydisch)

  • 7. Ton: Tetrardus authenticus (mixolydisch)
  • 8. Ton: Tetrardus plagalis (hypomixolydisch)

Das Ethos der Kirchentöne beschreibt deren Charakter, aber auch den Brauch, diese Kirchentöne für bestimmte liturgische Zwecke einzusetzen. Dies ist zwar sicherlich Auslegungssache und variiert mit der Zeit sowie mit dem individuellen Empfinden eines jeden Zuhörers, aber einige Punkte lassen sich etwas allgemeingültiger herausarbeiten. Dies wird im folgenden mit Hilfe der Säulenkapitelle von Cluny erläutert.

Säulenkapitelle von Cluny

Zwei erhaltene Säulenkapitelle vom Ende des 11. Jahrhunderts mit je vier Reliefs aus der größtenteils zerstörten, mittelalterlichen Abtei von Cluny zeigen interessante bildliche Darstellungen der acht Kirchentöne mit jeweils einem lateinischen Hexameter. Diese sind ein Hinweis auf die damalige Ansicht des Künstlers, welche Bedeutung und Symbolik die Kirchentöne haben.

1. Kapitell

Protus

Die erste Kirchentonart wird oft zum Beginn des Kirchenjahres, also im Advent, eingesetzt. Der Schlusston (die Finalis) ist der Ton d. Der Renaissancegelehrte Glareanus charakterisierte den Protus 1547 in seinem Dodekachordon als ernst, würdevoll und erhaben.

1. Ton

Hexameter: Hic tonus orditur modulamina musica primus.

Übersetzung: Dieser erste Ton beginnt in Melodien zu reden.

Relief: Sitzender junger Mann mit Zupfinstrument.

Symbolik: Das Instrument soll möglicherweise an ein einsaitiges Monochord (zur Veranschaulichung der verschiedenen Töne) erinnern. Markus 12,31: Das erste (Gebot) ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Matthäus 6,33: Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.

Beispiele: Komm, du Heiland aller Welt, Gotteslob 227 (altes Gotteslob, Liednummer 108; Kontrafaktur des mittelalterlichen Hymnus "Veni redemptor gentium"); O Heiland reiß‘ die Himmel auf, Gotteslob 231 (altes Gotteslob 105; Kontrafaktur der mittelalterlichen Antiphon "Rorate caeli desuper" ("Tauet Himmel von oben"), Introitus vom vierten Adventssonntag)

2. Ton

Hexameter: Subsequitur ptongus numero vel lege secundus.

Übersetzung: Es folgt der nach Rang oder Regel zweite Klang.

Relief: Eine Tänzerin mit Cymbeln.

Symbolik: Der zweite, authentische Ton ist dem ersten, plagalen Ton untergeben. Kein zweiter ohne den ersten, kein Tanz ohne Musik. Zwei Menschen, Mann und Frau, bilden ein Paar. Markus 12,31: Als zweites (Gebot) kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.

Beispiele: Tauet Himmel aus den Höh'n, altes Gotteslob 104; Jerusalem surge (Jerusalem, erhebe dich), Communio vom zweiten Adventssonntag; Ad te levavi animam meam (Zu dir erhebe ich meine Seele), Offertorium vom ersten Adventssonntag

Deuterus

Die zweite Kirchentonart ist bittend und klagend, wird in der Fastenzeit und besonders häufig in der Karwoche verwendet. Die Finalis ist der Ton e. Der Renaissancegelehrte Glareanus charakterisierte den Deuterus 1547 in seinem Dodekachordon als andächtig, klagend, wehmütig und flehend.

3. Ton

Hexameter: Tertius impingit Christumque resurgere fingit.

Übersetzung: Der Dritte ist eingängig und schafft, dass Christus aufersteht.

Relief: Ein sitzender, etwas älterer, bärtiger Mann – eventuell eine Anspielung auf Christus – mit einer sechsseitigen Lyra mit den Tönen c, d, e, f, g und a.

Symbolik: Die rechte Hand des Mannes zeigt auf die e-Saite, also den Schlusston des dritten Kirchentones und gleichzeitig die dritte Saite der Lyra. Am dritten Tage auf Karfreitag ist Christus auferstanden. Lukas 24,21: Und dazu ist heute schon der dritte Tag, seitdem das alles geschehen ist.

Beispiel: O Haupt voll Blut und Wunden, Gotteslob 289 (altes Gotteslob 179)

4. Ton

Hexameter: Succedit quartus simulans in carmine planctus.

Übersetzung: Es folgt der Vierte, der mit seinem Klang das Klagen nachahmt.

Relief: Ein Mann mit gekrümmten Rücken, etwas verrenkt und mit geneigtem Kopf, auf einer Schulter ein Joch mit drei Glocken tragend. Eine vierte Glocke hängt am linken Arm.

Symbolik: Der vierte Ton steht unter dem Joch des dritten. Der vierte, authentische Ton ist dem dritten, plagalen Ton untergeben. Um Lazarus wurde vier Tage geklagt. Johannes 11,39: denn es ist bereits der vierte Tag.

Beispiele: Gott, heil'ger Schöpfer aller Stern (Kontrafaktur nach dem mittelalterlichen Hymnus "Conditor alme siderum"), Gotteslob 230 (altes Gotteslob 116); Das Weizenkorn muss sterben, Gotteslob 210 (altes Gotteslob 620); O komm, o komm, Immanuel, Gotteslob (Regionalteil Ost) 714 (altes Gotteslob im Berliner Anhang)

2. Kapitell

Tritus

In der dritten Kirchentonart werden oft demütige Freude, Glaube oder Hoffnung dargestellt. Die Finalis ist der Ton f. Der Renaissancegelehrte Glareanus charakterisierte den Tritus 1547 in seinem Dodekachordon als gesetzt und streng.

5. Ton

Hexameter: Ostendit quintus quam sit quisquis tumet imus.

Übersetzung: Der Fünfte zeigt, wie derjenige sich erniedrigt, der sich erhöht.

Relief: Nur sehr unvollständig erhalten. Erhalten ist nur die Darstellung von vier Körpern ohne Kopf, die sich auf die Inschrift stützen oder daran sitzen.

Symbolik: Es handelt sich offenbar auch um ein Wortspiel um den erniedrigten Ton b molle und den erhöhten Ton b durum. Am darüberliegenden, fünften Ton c erkennt man, die Erniedrigung beziehungsweise Erhöhung des Tones b. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt (Matthäus 23,12 und Lukas 14,11).

Beispiel: Credo III (Glaubensbekenntnis), Gotteslob 122 (altes Gotteslob 423)

6. Ton

Hexameter: Si cupis affectum pietatis, respice sextum.

Übersetzung: Wenn Du das Gefühl der Frömmigkeit wünschst, berücksichtige den Sechsten.

Relief: Der Kopf fehlt, viele Verstümmelungen. Möglicherweise ein Musiker mit Psalter.

Symbolik: Nach Augustinus ist die Sechs die Zahl der Heiligkeit.

Beispiel: Ecce lignum crucis (Seht das Holz des Kreuzes), Gotteslob 308 (2) (altes Gotteslob 204 (1))

Tetrardus

Die vierte Kirchentonart wird bevorzugt für Melodien verwendet, die Lob, Bitte oder Dank ausdrücken. Der Schlusston ist g. Der Renaissancegelehrte Glareanus charakterisierte den Tetrardus 1547 in seinem Dodekachordon als ruhig mit heiterer Grundstimmung.

7. Ton

Hexameter: Insinuat flatum cum donis septimus almum.

Übersetzung: Der Siebente verschafft mit seinen Gaben dem göttlichen Wehen Eingang.

Relief: Das Instrument und der obere Teil des Körpers sind verloren. Möglicherweise hält die erhaltene Hand eine Harfe. Palmzweige.

Symbolik: Der Heilige Geist hat sieben Gaben: Weisheit, Verstand, Rat, Stärke, Erkenntnis, Frömmigkeit und Gottesfurcht. Die Pfingstsequenz (Text um 1200) spricht vom sacrum septenarium, der siebenteiligen heiligen Gabe. König David spielte Harfe und im Buch der Sprichwörter seines Sohnes Salomo steht im Kapitel 9, Vers 1: Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, ihre sieben Säulen behauen.. Die Offenbarung des Johannes 4,5: Und sieben lodernde Fackeln brannten vor dem Thron; das sind die sieben Geister Gottes. Die Offenbarung des Johannes 8,2: Sieben Engel standen vor Gott; ihnen wurden sieben Posaunen gegeben.1)

Beispiel: Lobt Gott, ihr Christen allzugleich, Gotteslob 247 (altes Gotteslob 134), Kontrafaktur des gregorianischen Introitus vom ersten Weihnachtstag "Puer natus est nobis" ("Ein Kind ist uns geboren")

8. Ton

Hexameter: Octavus sanctos omnes docet esse beatos.

Übersetzung: Der Achte lehrt, dass alle Heiligen selig sind.

Relief: Die Darstellung ist praktisch völlig zerstört.

Symbolik: Es gibt acht Seligpreisungen (siehe Matthäus 5,3). Die sieben Gaben des Heiligen Geistes bringen am Ende die Seligkeit hervor.

Beispiel: So sehr hat Gott die Welt geliebt, altes Gotteslob 177


Juli 2010

Literatur

  • Daniel Saulnier: The Gregorian modes, Abbaye Saint-Pierre, Solesmes, Frankreich (2002), Original: Modes Grégoriens, Übersetzung: Edward Schaefer, ISBN 9782852742208
  • Jacques Chailley: Les huit tons de la musique et l'éthos des modes aux chapiteaux de Cluny, Acta musicologica, Volume LVII, 1985, Seiten 73 bis 94, Paris
  • Leo Schrade: Die Darstellung der Töne an den Kapitellen der Abteikirche zu Cluny. Ein Beitrag zum Symbolismus in mittelalterlicher Kunst, Vierteljahrsschrift für deutsche Literaturwissenschaft 7, 1929, Seiten 229 bis 266
  • Kathi Meyer: The Eight Gregorian Modes on the Cluny Capitals, The Art Bulletin, Volume 34, Number 2, June 1952, Seiten 75 bis 94, College Art Association
  • Arthur Gardner: Medieval sculpture in France, Chapter II.II., Seite 89, The University Press, 1931, (reprinted by Cambridge University Press Archive, 1969, reprinted by Productivity Press, 1982)
  • Kenneth John Conant: The Apse at Cluny, Speculum, Volume 7, Number 1, January 1932, Seiten 23 bis 35, Medieval Academy of America
  • Glanearus: Dodekachordon (1547)

Siehe auch

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