Anteus: Ich grüße dich Tiro! Wie geht es dir heute?
Tiro: Sei gegrüßt, Meister Anteus! Das Singen heute Morgen hat mir große Freude bereitet und hat mich froh und zufrieden gemacht. Ich möchte aber gerne erfahren, warum das so ist.
Anteus: Es ist gut, dass du immer so wissbegierig bist. Was meinst du denn, wie wir beide uns diesem Thema am besten nähern sollten?
Tiro: Warum haben wir ausgerechnet sieben verschiedene Töne für unsere Musik?
Anteus: Weil sieben genug sind, um alle menschlichen Gefühle in Melodien auszudrücken, wie beispielsweise Freude und Trauer, Demut und Stolz oder Sehnsucht und Dankbarkeit.
Tiro: Ist aber Stolz nicht eine schlechte Charaktereigenschaft?
Anteus: Ja sicher, aber sollte er deshalb nicht musikalisch ausgedrückt werden können?
Tiro: Wäre die Musik nicht genauso verdorben, wie der Hochmut den sie in Töne setzt?
Anteus: Auch die Furcht ist ein unerfreuliches Gefühl, dennoch kann auch Musik durch unerwartete Wendungen den Menschen in Angst versetzen. Alles, was menschlich ist, kann auch in Musik übertragen werden. Das umfasst die guten Gefühle genauso wie die schlechten.
Tiro: Aber geht das nicht auch mit nur sechs oder mehr als sieben verschiedenen Tönen?
Anteus: Lieber Tiro, die Sieben ist eine göttliche Zahl, die nicht willkürlich vom Menschen festgelegt worden, sondern durch Gottes Wink in die Welt gekommen ist. Woher kennst du die Zahl Sieben aus deinen Studien?
Tiro: Gott schuf die Welt in sieben Tagen, es gibt die sieben freie Künste und der Heilige Geist hat sieben Gaben.
Anteus: Richtig, Tiro! Schon der vierte Ekkehard von Sankt Gallen hatte jeder der sieben freien Künste genau eine Gabe des Heiligen Geistes zugeordnet, weil die Sieben eine göttliche Zahl ist.
Tiro: Und es gibt ja auch noch die sieben Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung, die sieben Laster Stolz, Geiz, Wollust, Neid, Völlerei, Zorn und Trägheit und die sieben Sakramente Taufe, Buße, Eucharistie, Firmung, Ehe, Priesterweihe und Krankensalbung.
Anteus: Sehr gut, aber warum gibt es sechs Wochentage, die zusammen mit dem Tag des Herrn ebenfalls sieben ergeben?
Tiro: Aus irgendeinem Grund war es Gott wohl wichtig, sechs Tage lang zu arbeiten und einen weiteren heiligen Ruhetag zu halten.
Anteus: Genauso, wie es ihm wichtig war, dass der Mensch von sieben ewig wandelnden Himmelskörpern umgeben ist.
Tiro: Ich kenne aber nur fünf, nämlich die helle Venus, den Jupiter, den Mars, den Merkur und den etwas unscheinbareren Saturn.
Anteus: Aber was ist mit dem Mond und der Sonne, laufen sie nicht genauso wie die Planeten über den Himmel. Bloß weil sie heller als die Planeten und groß sind, sollen wir sie nicht mitzählen?
Wenn du alle sieben Wandelgestirne in Richtung ihres Umlaufs auf einem Kreis in die Reihenfolge ihrer Umlaufzeiten bringst, ergibt sich ein Siebeneck, wie hier in dieser Zeichnung. Der Mond umrundet uns innerhalb eines Monats am schnellsten, dann folgen die sonnennahen Planeten, der Merkur und die Venus. Die Sonne braucht ein Jahr und steht oben in der Mitte. Danach folgen die drei langsameren Planeten, der Mars, der Jupiter - er braucht zwölf Jahre für einen Umlauf - und der Saturn. Wenn ich jetzt von der Sonne ausgehend und in unserem Schreibsinn rechtsläufig immer das drittnächste Wandelgestirn mit insgesamt sieben geraden Linien verbinde, ergibt sich ein Heptagramm und eine bestimmte Reihenfolge der Wandelgestirne.
Und wegen dieses siebenzackigen Sterns gibt es genau in dieser Reihenfolge:
Du wirst diese Namen für die Wochentage auch in vielen anderen Sprachen der Welt und die Zahl Sieben in vielen weiteren Zusammenhängen wiederfinden.
Tiro: Das kann wirklich kein Zufall sein, aber warum auch in der Musik?
Anteus: Überall, nicht nur auch in der Musik. Denk an den Regenbogen, den wir vor einigen Monaten gemeinsam betrachtet haben. Wie viele Farben konntest du ohne weiteres unterscheiden?
Tiro:
Anteus: Wie viele Farben hast du mir also aufgezählt?
Tiro: Sieben!
Anteus: Ich kannte einen Mann, der bei jedem Ton eine dieser sieben Farben wahrnimmt, und ist nicht auch eine solche Mitempfindung ein göttliches Zeichen?
Tiro: Wie soll das gehen?
Anteus: Das kann ich dir nicht sagen, aber es ist tatsächlich so, dass er sofort hörte, wenn nicht unsere gelb klingende, sondern die grün klingende Glocke angeschlagen wurde. Ich habe das überprüft: er konnte morgens direkt nach dem Aufstehen ohne irgendetwas gehört zu haben, jede unserer Glocken sofort an der Farbe erkennen, die er bei ihrem Klang wahrnahm.
Tiro: Ist dieser Mann also mehr als wir vom göttlichen Wehen umgeben?
Anteus: Das würde ich nicht sagen, denn jeder von uns ist mit seinen eigenen Gaben ausgestattet. Du kannst ohne Mühe richtig singen, einem anderen fällt es leicht, Texte auswendig zu lernen, und dieser Mann konnte Farben von Klängen wahrnehmen.
Tiro: Trotzdem verstehe ich noch nicht, warum es sieben Töne sind. Ich kann mit meiner Stimme jeden beliebigen Ton außerhalb unseres Tonsystems singen, warum darf ich das aber nicht tun?
Anteus: Selbstverständlich darfst du das tun, wenn du willst. Wenn du aber mit anderen Menschen im Einklang musizieren möchtest, müssen sich alle auf ein gemeinsames Tonsystem einigen. Gott hat es bei den Musikinstrumenten so eingerichtet, dass wir mit Flöten, Posaunen und Saiteninstrumenten mehr als einen Grundton erzeugen können. So hat schon in der Antike Pythagoras solche Töne untersucht und einen göttlichen Zusammenhang zwischen den Tonhöhen gefunden. Er hat auch ein System aus zwölf verschiedenen Tönen untersucht, musste aber feststellen, dass dieses System unvollkommen ist.
Tiro: Warum denn?
Anteus: Dazu muss ich ein wenig ausholen: Bei der Untersuchung von konsonanten Klängen fand Pythagoras das erste Naturgesetz überhaupt, das sich auf Zahlenverhältnisse beruft. Danach klingen zwei Töne gut zusammen, wenn ihre Schwingungen in einem möglichst kleinen Verhältnis von ganzen Zahlen stehen. Umgekehrt ergeben andere Zahlenverhältnisse alles andere als einen Wohlklang.
Tiro: Wie hat Pythagoras das herausfinden können?
Anteus: Pythagoras soll an einer Werkstätte vorbeigekommen sein, in der mehrere Handwerker gleichzeitig hämmerten (Anmerkung: siehe auch "Über die pythagoreischen Wurzeln der gregorianischen Modi"). Dabei fiel ihm auf, dass vier der Werkzeuge in perfekter Konsonanz klangen und ein fünftes mit keinem der anderen. Als er daraufhin die Handwerker bat, die Werkzeuge zu tauschen, folgten die Konsonanzen den Werkzeugen, und waren also nicht mit den Männern, sondern mit deren Werkzeugen in Verbindung zu bringen. Schließlich ermittelte er die Gewichte der Werkzeuge und fand, dass die konsonant klingenden Werkzeuge die Gewichtsverhältnisse 12 zu 9 zu 8 zu 6 hatten. Das fünfte nicht konsonant klingende Werkzeug hatte ein relatives Gewicht von 8 und einem Halben, also genau zwischen den Werkzeugen mit den Gewichtsteilen 8 und 9. Danach soll er ähnliche Untersuchungen am Monochord gemacht haben, wo er exakt die gleichen Verhältnisse zwischen den Klängen und den Saitenlängen wie zwischen den Klängen und den Gewichten der Werkzeuge fand. Es wird auch berichtet, dass er Flöten mit verschiedenen Rohrlängen untersucht hat, wo er ebenfalls diese Verhältnisse vorfand. Aus der Tatsache, dass klingende Metallwerkzeuge, klingende Darmsaiten und klingende Rohre alle das gleiche Verhalten zeigten, wurde ihm klar, dass dahinter ein universelles und göttlich gegebenes Naturprinzip stecken muss.
Tiro: Und um das herauszufinden, musste Pythagoras erst an einer Werkstätte vorbeikommen? Hätte er das nicht auch direkt mit den Musikinstrumenten herausbekommen können?
Anteus: Sicherlich wäre das möglich gewesen, aber es ist oft so, dass das Naheliegende noch eines Winkes bedarf, bevor es offensichtlich werden kann, und einen solchen göttlichen Wink erhielt Pythagoras durch die Handwerker, denen er begegnete.
Ein Musikant kann allein durch seine Lippen und seinen Atem verschiedene Töne aus seiner Posaune hervorbringen. Ein anderer kann auf seiner Harfe durch das geschickte Berühren einer Saite mit dem Finger, während er mit einem anderen Finger die Saite zupft, höhere Töne hervorbringen. Warum aber diese Töne kommen, ist Musikanten völlig unklar, und sie wissen auch nichts über die Zahlenverhältnisse, die damit im Zusammenhang stehen.
Tiro: Aber was sagen uns nun die vier Zahlen sechs, acht, neun und zwölf?
Anteus: Die Philosophen schauen auf die Verhältnisse zwischen diesen Zahlen. Welche Verhältnisse findest du?
Tiro: Die erste und die letzte verhalten sich wie ein halbes. Die ersten beiden und die letzten beiden verhalten sich wie drei Viertel und die erste und die dritte, sowie die zweite und die letzte verhalten sich wie zwei Drittel. Das hat eine gewisse Symmetrie.
Anteus: Ja, und das ist nicht alles, denn diese Verhältnisse beruhen auf den Grundzahlen zwei, drei und vier, und auch diese Zahlen haben besondere Bedeutungen.
Tiro: Welche meinst du?
Anteus: Es sind sowohl ganz natürliche als auch göttliche Zahlen. Die Zwei steht für das Verhältnis von Mann und Frau. Das Jahr teilt sich in zwei Hälften, bei der einen sind die Tage länger als die Nächte und bei der anderen ist es umgekehrt. Die Hälfte des Monats nimmt der Mond zu und in der anderen Hälfte nimmt er ab. Die Hälfte des Tages ist es hell, die andere ist es dunkel. Es gibt ein Oben und ein Unten, ein Rechts und ein Links und auch ein Vorne und ein Hinten.
Tiro: Und was bedeutet die Drei?
Anteus: Die Drei ist die göttlichste aller Zahlen und steht für die Trinität von Gottvater, Gottsohn und dem Heiligen Geist. Außerdem hat jede Jahreszeit drei Monate.
Tiro: Und es gibt vier Jahreszeiten!
Anteus: Ja, und nicht nur das, sondern auch die vier Mondphasen trennen wir beim Neumond, beim zunehmenden Halbmond, beim Vollmond und beim abnehmenden Halbmond. Außerdem gibt es die vier Himmelsrichtungen Norden, Süden, Osten und Westen, die uns auf Reisen Orientierung geben.
Und vergiss bitte nicht: es gibt auch vier Tonarten:
Tiro: Die kenne ich natürlich. Aber was hat das alles mit der Zahl Sieben zu tun?
Anteus: In der geistigen Welt verehren wir den dreifaltigen Gott. Die vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft sind die Bestandteile unserer irdischen Welt. Am vierten Tag schuf Gott in der himmlischen Welt die Gestirne und mit ihnen auch die sieben veränderlichen Himmelsobjekte.
Die Sieben verbindet also das Göttliche mit dem Irdischen, die Drei und die Vier ergeben in der Summe diese Zahl.
Aber auch mit den vier Mondphasen besteht ein Zusammenhang, denn jeder dieser vier Abschnitte des Monats besteht aus einer Woche mit den sieben Wochentagen, über die wir uns vorhin schon unterhalten hatten.
Tiro: Ich verstehe aber immer noch nicht, warum auch unser System der Töne aus sieben verschiedenen Tönen besteht.
Anteus: Der große Pythagoras hat herausgefunden, dass die Töne, die im Verhältnis zwei zu eins zueinander stehen sich sehr stark gleichen, so dass diese vom Grundsatz her nicht unterschieden werden müssen – wie wenn Knaben und Männer gleichzeitig singen. Daher hat er das nächstes Zahlenpaar mit dem größten Verhältnis, nämlich drei und zwei betrachtet und sich gefragt, wie oft das entsprechende Verhältnis angewendet werden muss, damit insgesamt etwas zusammenkommt, das auch mit dem Verhältnis zwei zu eins gebildet werden kann. Er hat berechnet, dass zwölf Anwendungen mit dem Verhältnis drei zu zwei fast so groß sind, wie sieben Anwendungen mit dem Verhältnis zwei zu eins. Wenn also die Konsonanzen durch das Verhältnis drei zu zwei zwölf Mal hintereinander angewendet wird, ergibt sich fast der gleiche Ton, wie wenn die Konsonanzen durch das Verhältnis zwei zu eins sieben Mal angewendet wird.
Tiro: Dann kann diese Zwölfteilung also als sinnvoll und harmonisch angesehen werden.
Anteus: Nein, denn der Zusammenklang der beiden erzielten Töne ist nicht konsonant. Der Unterschied der beiden Töne ist so deutlich, dass es nicht angenehm klingt, wenn sie gemeinsam ertönen.
Tiro: Hat Pythagoras die Zwölfteilung also nur erwogen und dann wegen dieser Unstimmigkeiten wieder verworfen?
Anteus: So muss man das wohl sehen, denn für ihn war es sehr wichtig, dass ein System im Sinne einer vollkommenen kosmischen Harmonie und Universalität gestaltet ist.
Tiro: Kann denn das System mit sieben Tönen aus den Überlegungen von Pythagoras abgeleitet werden, und ist dieses in diesem vollkommenen Sinne gestaltet?
Anteus: Ja! Weniger als sieben Töne mit den Verhältnissen drei zu zwei sind nicht ausreichend, um ein Tonsystem zu bilden, mit dem alle Gefühle in Melodien auszudrücken sind.
Weniger als sieben Töne wären also dem Ethos der verschiedenen Ausprägungen des Systems unserer Kirchentöne nicht hinreichend.
Mehr als sieben Töne bringen die perfekte Harmonie nur in Unordnung, so dass auf mehr als sieben Töne verzichtet werden kann.
Tiro: Ist das eine wirklich universelle Erkenntnis, oder könnte es sein, dass sich irgendwann ein noch besseres System herausbildet, das mit weniger oder mehr Tönen auskommt?
Anteus: Weniger Töne wären nicht genug, um alles, was wir heute schon kennen, in Töne zu setzen. Mehr Töne könnten das Spektrum vielleicht erweitern, aber das würde nach heutigem Erkenntnisstand keinen Mehrwert liefern.
Tiro: Unser Tonsystem hat doch aber neben den sechs Tönen Ut, Re, Mi, Fa, Sol und La noch das Si durum und das Si molle – das sind doch dann zusammen acht und nicht nur sieben Töne!
Anteus: Das Si ist und bleibt ein Si, aber es hat tatsächlich zwei Ausprägungen. Diese dienen aber nur dazu, das Singen einer Melodie ein wenig zu vereinfachen. Viele weniger gute und jüngere Schüler als du sind gar nicht in der Lage, zwischen dem hohen Si durum und dem niedrigen Si molle zu unterscheiden. Diese beiden zählen nur als ein Ton mit zwei unwesentlichen Schattierungen. Es bleibt also trotz dieser kleinen Farbabweichung zwischen dem Si durum und dem Si molle bei insgesamt sieben wesentlichen Tönen.
Tiro: Ich danke dir, Meister! Das tiefere Verständnis dieser Beziehungen wird mich beim Singen bestimmt beflügeln. Ich freue mich jetzt schon auf das nächste Gespräch mit dir.
Anteus: Und ich freue mich immer über deine Fragen und deine Gelehrigkeit.