Mater Dolorosa Berlin-Lankwitz

Benutzer-Werkzeuge


musik:ueber_kontrafakturen_gregorianischen_repertoires

Über Kontrafakturen gregorianischen Repertoires

Von Markus Bautsch

Einige Stücke des gregorianischen Repertoires sind in der deutschen Sprache nachgedichtet worden. Manche Vertonungen der deutschsprachigen Kirchenlieder gehen nicht nur auf die lateinischen Texte, sondern auch auf die ursprünglichen Melodien zurück. Im Folgenden sind einige Beispiele für solche Kontrafakturen aufgeführt.

Hymni

Conditor alme siderum

Der Beginn des Hymnus' "Conditor alme siderum" im Antiphonale Romanum

Die ursprünglichen sechs Strophen des Hymnus Conditor alme siderum stammen aus der Spätantike. Die Melodie im Deuterus plagalis (vierter Kirchenton) ist um das Jahr 1000 in einer Neumenhandschrift aus Kempten nachgewiesen:

Norwegisches Nationalarchiv, Universität Bergen - Lateinisches Fragment Nummer 584 – um 1500

Conditor alme siderum,
aeterna lux credentium,
Christe, redemptor omnium,
exaudi preces supplicum.

Gott, heil'ger Schöpfer aller Stern

Die Kontrafaktur Gott, heil'ger Schöpfer aller Stern aus dem Jahr 1523 stammt vom Reformator Thomas Münzer:

Gott, heylger schöpffer aller stern,
erleucht uns, die wir sind so fern,
zurkennen deynen waren Christ,
der vor uns hye Mensch worden ist.

Das Adventslied befindet sich mit leicht angepasstem Text im Evangelischen Gesangbuch unter der Liednummer 3. Im Gotteslob ist es die Liednummer 230 (altes Gotteslob, Liednummer 116):

Gott, heil'ger Schöpfer aller Stern,
erleucht uns, die wir sind so fern,
dass wir erkennen Jesus Christ,
der für uns Mensch geworden ist.

Veni redemptor gentium

Der Beginn des Hymnus' "Veni, redemptor gentium" im Liber Hymnarius

Text

Dieser spätantike Hymnus vom Ende des 4. Jahrhunderts in lateinischer Sprache geht auf den Mailänder Bischof Ambrosius zurück. Die Urheberschaft wird noch in der Spätantike durch ein Zitat des heiligen Augustinus' von Hippo (Rede 372 De nativitate Domini, Abschnitt 3) gestützt, aber auch durch die Zuschreibungen von Papst Coelestin I. (Rede im Konzil zu Rom 430), vom gallorömischen Abtbischof Faustus von Riez in seiner Epistula ad Gratum diaconum und dem römischen Staatsmann und Gelehrten Cassiodor bezeugt.

Alle bei Ambrosius für einen Hymnus typischerweise so gestalteten acht Strophen bestehen aus vier Versen, die im Wesentlichen wiederum aus jeweils acht Silben zusammengesetzt sind. Erst die zweite Strophe beginnt mit den Worten „Veni, redemptor gentium“. Der Text aller acht Strophen lautet:

1. Intende, qui regis Israel,
Super Cherubim qui sedes,
Appare Ephrem coram, excita
potentiam tuam et veni.

2. Veni, redemptor gentium;
Ostende partum virginis;
Miretur omne saeculum.
Talis decet partus Deo.

3. Non ex virili semine,
Sed mystico spiramine
Verbum Dei factum est caro
Fructusque ventris floruit.

4. Alvus tumescit Virginis,
Claustrum pudoris permanet,
Vexilla virtutum micant,
Versatur in templo Deus.

5. Procedat e thalamo suo,
Pudoris aula regia,
Geminae gigas substantiae
Alacris ut currat viam.

6. Aequalis aeterno Patri,
Carnis tropaeo cingere,
Infirma nostri corporis
Virtute firmans perpeti.

7. Praesepe iam fulget tuum
lumenque nox spirat novum,
Quod nulla nox interpolet
Fideque iugi luceat.

8. Sit, Christe, rex piissime,
Tibi Patrique gloria
Cum Spiritu Paraclito,
In sempiterna saecula. Amen.

Zugunsten einer abschließenden kleinen Doxologie („Gloria tibi“) als achter Strophe - ohne ein abschließendes „Amen.“ - war die ursprüngliche erste Strophe „Intende“ im Mittelalter weggelassen worden:

Gloria tibi, Domine,
Qui natus es de virgine,
Cum Patre et Sancto Spiritu,
In sempiterna saecula.

Die Zisterzienser haben die ursprüngliche erste Strophe in ihrem Stundengebet beispielsweise erhalten.

Der Text taucht in der römisch-katholischen Liturgie heute als Adventshymnus bei der Feier des Stundengebets in der Oktav vor Weihnachten auf.

Melodie

Hymnus im Codex Einsidlensis 366

Der Kirchenvater Ambrosius soll mehrere Melodien für diesen Hymnus verwendet haben.

Die heute bekannte Melodie kann auf eine Neumenhandschrift des Klosters Einsiedeln aus der Zeit um 1120 (Codex Einsidlensis 366) zurückverfolgt werden. Möglicherweise war diese Melodie aber auch schon zur Zeit der Entstehung einer Handschrift um das Jahr 900 aus dem Kloster Sankt Gallen in Verwendung. Die Melodie ist im Protus plagalis (zweiter Kirchenton) komponiert:

Die zweite Strophe des originalen Hymnus aus dem Codex Einsidlensis 366 in moderner Notenschrift

Nun komm, der Heiden Heiland

Am Ende des Mittelalters und zur Zeit der Reformation wurde dieser Text durch Nachdichtungen ins Deutsche übertragen, wie zum Beispiel vom Priester und Dichter Heinrich Lauferberg im südwestdeutschen Raum („Kum Har, Erlöser Volkes Schar“ von 1418), in freier Übersetzung vom Reformator Thomas Münzer und nicht zuletzt als Kontrafaktur mit fast wörtlicher Übersetzung vom Reformator Martin Luther („Nu kom der Heyden heyland“ von 1524).

"Nun komm, der Heiden Heiland" im Erfurter Enchiridion von 1524

Die 1524 im protestantischen Gesangbuch Erfurter Enchiridion erschienene Fassung Nu kom der Heyden heyland von Martin Luther ist ebenso wie die oben beschriebene gregorianische Melodie im Protus auf den Grundton g gesetzt, der nominell mit der Finalis sol der mittelalterlichen Melodie übereinstimmt. Hier lautet die erste Strophe, deren Verse allerdings aus nur jeweils sieben Silben zusammengesetzt sind, folgendermaßen:

Nu kom der Heyden heyland/
der yungfrawen kynd erkannd.
Das sych wunnder alle welt /
Gott solch gepurt yhm bestelt.

Weiterentwicklung

In der Renaissance und im Barock wurde diese deutschsprachige Fassung des Adventshymnus' „Nun komm, der Heiden Heiland“ vielfältig als Vorlage für mehrstimmige Kompositionen verwendet.

Lucas Osiander der Ältere hat diese Melodie in einen heute bekannten a-cappella-Satz in g-Moll für vierstimmigen Chor gesetzt (aus „50 geistliche Lieder und Psalmen“, Nürnberg, 1586), der sich dadurch auszeichnet, dass sich die Melodiestimme im Sopran und nicht wie damals üblich im Tenor befindet.

Michael Prätorius hat 1607 dem Hymnus in seinen Musae Sioniae sogar fünf Chorkompositionen (Nummer 51 bis 55, alle in g-Moll) gewidmet, darunter auch ein dreistimmiger polyphoner Satz. Darüberhinaus gibt es auch noch eine doppelchörige Version zu acht Stimmen (Musae Sioniae – Anderer Theil).

Johann Sebastian Bach hat sich ebenfalls besonders vielfältig diesem Hymnus gewidmet. Neben den beiden Kirchenkantaten Bach-Werke-Verzeichnis 61 (Weimar, 1714) und 62 (Leipzig, 1724) hat er mehrere Chroalvorspiele für die Kirchenorgel zu diesem Hymnus in Molltonarten komponiert, wobei auch er die Tonart g-Moll bevorzugt hat (Bach-Werke-Verzeichnis 599 in a-Moll, 659 in g-Moll, 660 in g-Moll und 661 in g-Moll).

Das um 1712 entstandene Choralvorspiel Bach-Werke-Verzeichnis 659 hat bis heute eine nachhaltige Wirkung, und so wurde es zum Beispiel zwischen 1907 und 1909 vom italienischen, damals in Berlin lebenden Klaviervirtuosen Ferruccio Busoni (1866-1924) für das Klavier transkribiert.

Das Kirchenlied „Nun komm der Heiden Heiland“ befindet sich auch heute im Evangelischen Gesangbuch unter der Liednummer 4.

Komm, du Heiland aller Welt

Im Gotteslob unter der Liednummer 227 (altes Gotteslob, Liednummer 108) gibt es eine von Markus Jenny 1971 sprachlich angepasste Fassung ebenfalls als Kontrafaktur auf der Melodie aus dem Erfurter Enchiridion:

Komm, du Heiland aller Welt;
Sohn der Jungfrau, mach dich kund.
Darob staune, was da lebt:
Also will Gott werden Mensch.

Pange, lingua, gloriosi

Der Beginn des Hymnus' "Pange lingua glorisi" im Liber Usualis

Der Hymnus Pange, lingua, gloriosi corporis mysterium (Preise, Zunge, das Geheimnis dieses Leibes voll Herrlichkeit) steht im dritten Kirchenton (Deuterus authenticus) und wird traditionell zur Aussetzung des Allerheiligsten und bei der Fronleichnamsprozession gesungen. Die fünfte und sechste Strophe (Tantum ergo Sacramentum veneremur cernui (Darum lasst uns tief verehren ein so großes Sakrament) und Genitori, Genitoque laus et iubilatio (Gott, dem Vater und dem Sohne sei Lob, Preis und Herrlichkeit)) werden auch beim eucharistischen Segen gesungen.

Dieser Hymnus ist eine Nachdichtung des frühmittelalterlichen Hymnus Pange, lingua, gloriosi proelium certaminis (Besinge, Zunge, den Kampf des glorreichen Wettstreits) von Venantius Fortunatus aus dem 6. Jahrhundert. Die achte (Crux fidelis, inter omnes arbor una nobilis (Heilig Kreuz du Baum der Treue, edler Baum, dem keiner gleich)), neunte und zehnte Strophe werden zum Beispiel bei der Kreuzverehrung am Karfreitag oder in den Lesehoren (früher Matutinen) der Karwoche gesungen (siehe auch: Ablauf der Karmetten - Hymnus).

Der nachgedichtete Hymnus wird dem Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225–1274) zugeschrieben und ist vom alten Text inspiriert. Das Tantum ergo Sacramentum veneremur cernui (Darum lasst uns tief verehren ein so großes Sakrament) ist auch in einer bekannten Dur-Komposition aus Luxemburg von 1768 verbreitet.

Im alten Gotteslob sind sowohl das alte Pange, lingua, gloriosi corporis mysterium (Liednummer 543) mit der gregorianischen Melodie aus Einsiedeln aus dem frühen 12. Jahrhundert, als auch das neuere Tantum ergo Sacramentum mit der Melodie von 1768 aufgenommen (Liednummer 541). Die deutschsprachigen Kontrafakturen haben die unmittelbar benachbarten Liednummern 544 (Das Geheimnis lasst und künden von der katholischen Theologin Maria Luise Thurmair (1969)) und 542 (Sakrament der Liebe Gottes vom deutschen, katholischen Priester Friedrich Dörr (1970)).

Preise, Zunge, das Geheimnis

Im neuen Gotteslob sind ebenfalls beide Hymnentexte mit diesen Melodien enthalten: Pange, lingua, gloriosi corporis mysterium (Liednummer 494), Tantum ergo Sacramentum (Liednummer 496). Hier haben die deutschsprachigen Kontrafakturen die unmittelbar vorhergehenden Liednummern 493 (Preise, Zunge, das Geheimnis vom deutschen, katholischen Theologen Liborius Olaf Lumma (2008)) und 495 (Sakrament der Liebe Gottes, wie im alten Gotteslob von dem deutschen, katholischen Priester Friedrich Dörr (1970)).

Veni Creator Spiritus

Der Beginn des Hymnus' "Veni Creator Spiritus" im Liber Usualis

Der Pfingsthymnus Veni Creator Spiritus ist im Original und als Kontrafaktur im Gotteslob enthalten (Gotteslob, Liednummer 341 (lateinisch) und Liednummer 342 (deutsch); altes Gotteslob Liednummer 240 (lateinisch) und Liednummer 241 (deutsch)).

Der Hymnus besteht aus sechs Strophen mit jeweils drei Versen. Die ursprüngliche Fassung aus dem 9. Jahrhundert wird dem Benediktinerabt und Erzbischof Rabanus Maurus zugeschrieben und ist im Tetrardus plagalis (achter Kirchenton) komponiert. Die Übersetzung in Deutsche Komm, Heil'ger Geist, der Leben schafft von 1969 stammt vom katholischen Theologen und Priester Friedrich Dörr.

Komm, Heil'ger Geist, der Leben schafft

Eine in G-Dur notierte Melodiefassung im Viervierteltakt der ebenfalls sechsstrophigen, freien Übertragung „Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein“ ist im neuen Gotteslob unter der Liednummer 351 zu finden.

Im Regionalteil der Erzdiözesen Berlin, Dresden-Meissen, Erfurt, Görlitz und Magdeburg ist unter der Liednummer 768 ein Kehrvers mit einer weiteren vom Kehrvers „Kommt herbei, singt dem Herrn“ (Gotteslob 140) entlehnten, in e-Moll notierten Melodie mit der freien Übersetzung „Komm, Heil'ger Geist, mit deiner Kraft“ zu finden. Dieser Kehrvers wird als Antiphon zu drei entsprechenden Strophen gesungen.

Te Deum laudamus

Der Beginn des Hymnus' "Te Deum laudamus" im Liber Usualis

Der Hymnus Te deum laudamus liegt im Tonus solemnis als gregorianischer Gesang vor. Der Text soll auf die beiden Heiligen Ambrosius und Augustinus und auf das Jahr 387 zurückgehen.

Die Melodie ist im Deuterus komponiert und schwankt zwischen der authentischen und der plagalen Variante (dritter und vierter Kirchenton), wie im folgenden Ausschnitt deutlich wird:

Hymnus "Te Deum": ...quos pretioso sanguine redemisti. Aeterna fac...

Dich, Gott, loben wir

Romano Guardini hat den Text 1950 ins Deutsche übersetzt, und diese Textfassung wurde als Kontrafaktur in das alte Gotteslob übernommen (Liednummer 706).

Die elfstrophige, freie Übertragung des Textes „Großer Gott wir loben dich“ mit einer Melodie in F-Dur findet sich im neuen Gotteslob unter der Liednummer 380. Direkt davor ist unter der Nummer 379 lediglich der erste Vers „Te deum laudamus“ des lateinischen Originals aufgenommen worden.

Adoro te devote

Der Anfang des Hymnus "Adoro te devote"

Der siebenstrophige eucharistische Hymnus „Adoro te devote“ stammt vom italienischen Dominikaner und Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225 bis 1275). Er wurde in den Jahren 1263 und 1264 anlässlich der Einführung des Fronleichnamsfestes durch Papst Urban IV. gedichtet. 1570 wurde der Hymnus durch Papst Pius V. in das Messbuch für den römischen Ritus aufgenommen.

Gottheit tief verborgen

Die siebenstrophige Kontrafaktur „Gottheit tief verborgen“ ist im Gotteslob unter der Liednummer 497 zu finden. Die deutschsprachige Übersetzung stammt von der Dominikanerin Petronia Steiner (1908 bis 1995) und wurde in Jahren 1947 bis 1951 bearbeitet.

Sequenzen

Sequenzen waren im Mittelalter in der Liturgie als lateinische Messgesänge sehr zahlreich in Gebrauch und werden heute jedoch nur noch zu den Hochfesten Ostern und Pfingsten sowie gelegentlich an Fronleichnam und beim Gedächtnis der Schmerzen Mariens („Mater Dolorosa“ am 15. September) gesungen. Der Begriff Sequenz stammt vom lateinischen Wort „sequi“ (zu Deutsch „folgen“) ab, denn sie folgt als Teil des Rufes vor dem Evangelium unmittelbar auf das Halleluja und wird mit einem erneuten kurzen Halleluja-Ruf abgeschlossen.

Victimae paschali laudes

Der Beginn der Sequenz "Victimae paschali laudes" im Liber Usualis

Die Ostersequenz Victimae paschali laudes steht im ersten Kirchenton (Protus authenticus) und wurde ins alte Gotteslob von 1975 aufgenommen (Liednummer 215). Gleich dahinter (Liednummer 216) befindet sich eine Kontrafaktur in moderner deutscher Sprache von 1972 (Singt das Lob dem Osterlamme), die dem Evangelischen Gottesdienstbuch entnommen wurde. Im neuen Gotteslob ist - zumindest in der Ausgabe für Berlin, Dresden-Meißen, Erfurt, Görlitz und Magdeburg - allerdings nur noch die lateinische Fassung aus dem 11. Jahrhundert aufgeführt (Liednummer 320).

Christ ist erstanden

Schon im Mittelalter wurde die Melodie der Ostersequenz im Salzburger Raum mit dem relativ frei nachgedichteten deutschen Text Christ ist erstanden versehen (Gotteslob, Liednummer 318; altes Gotteslob, Liednummer 213; Evangelisches Gesangbuch, Liednummer 99). Hierbei handelt es sich vermutlich um die älteste deutschsprachige Kontrafaktur eines kirchlichen Gesangs. Auch das Kirchenlied Christ lag in Todesbanden (Evangelisches Gesangbuch, Liednummer 101), das von Martin Luther angepasst wurde, und das Himmelfahrtslied Christ fuhr gen Himmel (Gotteslob, Liednummer 319, altes Gotteslob, Liednummer 228; Evangelisches Gesangbuch, Liednummer 120) lehnen sich eng daran an.

Veni Sancte Spiritus

Der Beginn der Sequenz "Veni Sancte Spiritus" im Liber Usualis

Mit der Pfingstsequenz Veni Sancte Spiritus bittet die versammelte Gemeinde um den Beistand des Heiligen Geistes. Der Text erinnert an das im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte beschriebene Pfingstereignis und an die sieben Gaben des Heiligen Geistes oder wie es im Original heißt, an das „sacrum septenarium“:

  • Weisheit, Einsicht, Rat, Stärke, Erkenntnis, Frömmigkeit und Gottesfurcht

Die Pfingstsequenz gibt es im Gotteslob in der originalen, gregorianischen Fassung (Liednummer 343) aus der Zeit um 1200, die dem englischen Erzbischof Stephen Langton zugeschrieben wird, in seiner damaligen Wahlheimat Paris veröffentlicht wurde und im Protus authenticus (erster Kirchenton) komponiert ist. Die Komposition besteht aus zehn Versen, die paarweise mit jeweils der gleichen Melodie unterlegt sind. Diese Verspaare werden traditionell im Wechsel zwischen zwei Chören gesungen.

Siehe auch Pfingstsequenz.

Komm herab, du Heil'ger Geist

Unter der nachfolgenden Liednummer (344) befindet sich eine textliche Übertragung der katholischen Theologin Maria Luise Thurmair und des evangelischen Hymnologen und Liturgikers Markus Jenny von 1971 (Komm herab, du Heil'ger Geist), bei der die gregorianische Tonfolge unter Verwendung von Achtelnoten in einem Dreivierteltakt rhythmisch deutlich verändert notiert ist. Eine 1972 von Maria Luise Thurmair deutlich freier überarbeitete Textform mit nur fünf Strophen wurde mit einer völlig abweichenden Melodie in der Tonart e-Moll unter der Liednummer 349 ins neue Gotteslob aufgenommen.

Die Kontrafaktur im Gotteslob unter der Liednummer 770

Ferner ist im Regionalteil der Erzdiözesen Berlin, Dresden-Meissen, Erfurt, Görlitz und Magdeburg eine Übertragung der gregorianischen Melodie mit dieser Übersetzung unter der Liednummer 770 zu finden, die rhythmisch freier notiert wurde und deren Melodie dem Original daher sehr ähnlich kommt. Direkt dahinter, unter der Liednummer 771, ist dieser Text unter eine moderne Melodie mit Synkopen gelegt worden, die mit einer großen Sexte beginnt und in Dur notiert ist.

Im alten Gotteslob stehen die lateinische und die ins Deutsche übersetzte Form unter den Liednummern 243 und 244.

Grates nunc omnes

Die Sequenz "Grates nunc omnes" im venezianischen von Lucantonio Giunta herausgegebenen Graduale von 1527 aus der Bibliothek des Konservatoriums "Giuseppe Tartini" in Triest

Die Sequenz aus der weihnachtlichen Christmette Grates nunc omnes im achten Kirchenton (Tetrardus plagalis) ist in ihrer Originalform von 1030 heute kaum noch bekannt. Es existieren Handschriften mit diesem Gesang aus dem 15. Jahrhundert. Im venezianischen von Lucantonio Giunta herausgegebenen Graduale von 1527 findet sich eine gedruckte Fassung, die in der Bibliothek des Konservatoriums „Giuseppe Tartini“ in Triest aufbewahrt wird.

Gelobet seist du, Jesu Christ

Sie hat bis in die heutige Zeit große Verbreitung gefunden, da sie vorallem durch die Kontrafaktur in dem Weihnachtslied Gelobet seist Du, Jesu Christ bekannt geworden ist und in der Weihnachtszeit auch heute noch an vielen Orten gesungen wird.

Der lateinische Text lautet:

Grates nunc omnes
reddamus Domino Deo
qui sua nativitate
nos liberavit de diabolica potestate.
Huic oportet ut canamus cum angelis
semper sit gloria in excelsis.

Ins Deutsche übersetzt heißt dies:

Dank mögen nun alle
sagen dem Herrn und Gott,
der durch seine Geburt
uns befreit hat von der teuflischen Macht.
Diesem sollten wir mit den Engeln singen,
damit immer Ehre in der Höhe sei.

Eine erste deutschsprachige Fassung „Lovet sistu Ihesu Crist“ stammt von 1380 aus dem Zisterzienserinnenkloster Medingen südöstlich von Lüneburg. Diese Version wurde von Martin Luther aufgegriffen, der noch sechs weitere Strophen dazugedichtet hat. Allen sieben 1524 im Erfurter Enchiridion veröffentlichten Strophen hat Luther noch ein Diminutivum von „Kyrie eleison“ hinzugefügt.

Die erste Strophe lautet:

Gelobet seist du, Jesu Christ,
dass du Mensch geboren bist
von einer Jungfrau, das ist wahr,
des freuet sich der Engel Schar.
Kyrieleis.

Im Gotteslob findet sich dieses Lied unter der Nummer 252.

Introitus

Rorate

Der Beginn des Introitus' "Rorate caeli desuper" im Liber Usualis

Der Introitus Rorate vom vierten Adventssonntag ist im Protus authenticus (erster Kirchenton) komponiert und basiert auf einem Text aus dem Propheten Jesaja (nach der Vulgata Kapitel 45, Vers 5 bis 8):

Ego Dominus, et non est amplius;

formans lucem et creans tenebras,
faciens pacem et creans malum:
ego Dominus faciens omnia hæc.
Rorate, cæli, desuper,
et nubes pluant iustum;
aperiatur terra, et germinet Salvatorem,

et iustitia oriatur simul:
ego Dominus creavi eum.

Nach der Einheitsübersetzung (Kapitel 45, Vers 5 bis 8):

Ich bin der Herr und sonst niemand.
Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel,
Ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil.
Ich bin der Herr, der das alles vollbringt.
Taut, ihr Himmel, von oben,
Ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen!
Die Erde tue sich auf und bringe das Heil hervor,

Sie lasse Gerechtigkeit sprießen.
Ich, der Herr, will es vollbringen.

Rorate im Codex Einsidlensis 121 - um 970

Der Text des Introitus lautet wie folgt:

Rorate cæli desuper,
et nubes pluant iustum:
aperiatur terra,
et germinet Salvatorem.

Im Gotteslob gibt es unter der Liednummer 234 eine zweisprachige Fassung in Moll.

Heute sind auch die folgenden Textfassungen bekannt und verbreitet:

  • O Heiland, reiß' die Himmel auf (erster Kirchenton (Protus authenticus)), Evangelisches Gesangbuch 7 / Gotteslob, Liednummer 231, Augsburg 1666
  • Tauet, Himmel aus den Höh'n, altes Gotteslob, Liednummer 104 (Melodie Erfurt 1544, erster Kirchenton (Protus authenticus))
  • Tauet Himmel den Gerechten, Gotteslob, Liednummer 724 (Dur), Text aus Wien von 1774
  • Tau aus Himmelshöh'n, Gotteslob, Liednummer 158 (Kyrie-Litanei in Moll), Maria Luise Thurmair und Heinrich Rohr 1952

O Heiland, reiß' die Himmel auf

Bei den drei ersten Strophen des Liedes O Heiland, reiß' die Himmel auf handelt es sich um eine Kontrafaktur der gregorianischen Antiphon Rorate caeli. Der Text stammt vom Jesuitenpater Friedrich Spee, und die drei letzten Strophen sind frei dazugedichtet. In der folgenden doppelzeiligen Notendarstellung wird die Kontrafaktur anhand der ersten Strophe verdeutlicht:

Kontrafaktur O Heiland reiß' die Himmel auf / Rorate caeli

Siehe auch O Heiland reiß' die Himmel auf.

Es kommt ein Schiff, geladen

Unter der Voraussetzung, dass der Quintsprung zu Beginn des Introitus durch eine fünfstufige diatonische Tonleiter ausgefüllt wird, ergeben sich auch große Ähnlichkeiten zur Melodie des Advents- und Weihnachtsliedes Es kommt ein Schiff, geladen (Gotteslob Liednummer 236), das ebenfalls im ersten Kirchenton (Protus authenticus) steht. Dessen älteste Melodieüberlieferung findet sich im Andernacher Gesangbuch von 1608, und der ursprüngliche Text kann bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Damit handelt es sich um eines der ältesten deutschsprachigen Kirchenlieder.

Genauso wie beim Introitus gliedert sich der Strophentext in vier Verse. Der erste Vers schwingt sich wie bei den beiden Anfangsworten „Rorate caeli“ vom Grundton d bis zur Quinte a auf. Beim zweiten Vers fällt die Melodie von diesem Ton a wieder um eine große Terz zurück bis auf den Ton f. Der dritte Vers ist jeweils von den Tönen f - a - c - d dominiert, und beim letzten Vers fällt die Melodie wieder auf den Grundton d zurück:

Rorate-Motive im Kirchenlied "Es kommt ein Schiff, geladen"

Puer natus est

Der Beginn des Introitus' "Puer natus est" im Liber Usualis

Der Introitus Puer natus est vom Weihnachtstag ist im Tetrardus authenticus (siebenter Kirchenton) komponiert und basiert auf einem Text aus dem Propheten Jesaja (nach der Vulgata Kapitel 9, Vers 6, siehe auch Denn uns ist ein Kind geboren):

Antiphon Puer natus est, Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 121 (1151) (um 970)

Parvulus enim natus est nobis,
et filius datus est nobis,
et factus est principatus super humerum eius:
et vocabitur nomen eius,
Admirabilis, Consiliarius,
Deus, Fortis,
Pater futuri sæculi,
Princeps pacis.

In der Einheitsübersetzung (Kapitel 9, Vers 5):

Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns geschenkt.
Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter;
man nennt ihn:
Wunderbarer Ratgeber,
Starker Gott,
Vater in Ewigkeit,
Fürst des Friedens.

Introitus Puer natus est - Klarissenkloster Bamberg um 1500

Der Text des Introitus lautet wie folgt:

Puer natus est nobis,
et filius datus est nobis:
cuius imperium super humerum eius:
et vocabitur nomen eius,
magni consilii Angelus.

Lobt Gott, ihr Christen alle gleich

Im Gotteslob gibt es unter der Liednummer 247 (Evangelisches Gesangbuch, Liednummer 27) eine relativ freie deutschsprachige Nachdichtung vom protestantischen Kantor und Lehrer Nikolaus Herman aus den 1550er Jahren, bei der es sich um eine Kontrafaktur der gregorianischen Antiphon Puer natus est handelt:

Lobt Gott, ihr Christen alle gleich,
in seinem höchsten Thron,
der heut' schließt auf sein Himmelreich
und schenkt uns seinen Sohn.

In der folgenden doppelzeiligen Notendarstellung wird die Kontrafaktur anhand dieser ersten Strophe des deutschsprachigen Liedes verdeutlicht:

Kontrafaktur Lobt Gott, ihr Christen alle gleich / Puer natus est

Siehe auch Denn uns ist ein Kind geboren.


Dezember 2014, Dezember 2018, Oktober 2019

Siehe auch

musik/ueber_kontrafakturen_gregorianischen_repertoires.txt · Zuletzt geändert: 2021/05/13 22:15 von 127.0.0.1