Von Peter Simonett
Orgelmusik im Gottesdienst ist nicht Selbstzweck, sie ist kein Konzert, so wie auch eine sehenswerte Kirche kein Museum ist. Wie schon der Blumenschmuck am Altar und wie die schöne Kirche insgesamt Ausdruck des Gotteslobes der Gemeinde sein soll, so ist es erst recht die Musik, denn gute Musik geht ganz unmittelbar zu Herzen – und Frömmigkeit ist ja nicht nur mit dem Verstand und dem Willen zu vollziehen, sie verlangt auch unser Gefühl.
Die Orgelmusik hat im Gottesdienst verschiedene Aufgaben. Zuerst ist der Gesang der Gemeinde zu begleiten, bisweilen auch der gregorianische Choral, wenn er im Wechsel zwischen Schola und Gemeinde gesungen wird. Darüber hinaus kann die Orgelmusik dem Gottesdienst insgesamt einen würdigen und feierlichen Rahmen geben.
Eine gute Begleitung des Gemeindegesanges richtet sich nach der Gemeinde. Der Gesang der Kirchenlieder ist bei uns über die Jahrzehnte hin kräftig und unmittelbar gemeinschaftsbildend. Als Organist habe ich meine Freude daran, ich kann ihn durch unterschiedliche Art der Begleitung unterstützen und führen. Das darf nicht aufdringlich sein; wenn ein Lied in der einen Messe langsamer und zurückhaltender gesungen wird als in der nächsten, dann passe ich mich an oder versuche nur unmerklich den Gesang in meinem Sinne zu ändern. Am frühen Morgen sind einige Lieder auch tiefer zu singen als in einer Abendmesse, was der einzelne Sänger selten bemerkt, aber vielleicht hört er, wenn die verschiedenen Strophen in unterschiedlichem Klang begleitet werden je nach Textinhalt. In jedem Fall soll er sich beim Singen im Einklang mit dem Lied und der Gemeinde fühlen.
Die Vorspiele zu den Liedern fallen im Idealfall sehr unterschiedlich aus: länger oder kürzer, lauter oder leiser, mit deutlicher Durchführung der Melodie oder mit deren Einbettung in eine freie Gestaltung. Damit kann die Orgelmusik während des Gottesdienstes den Gläubigen zu einem tieferen, von Herzen kommenden Gotteslob verhelfen.
An zwei Stellen bekommt die Orgelmusik traditionell größeren Raum, zur Kommunion und am Ende des Gottesdienstes nach dem letzten Lied der Gemeinde. In anderen Kirchen, vor allem in den Kathedralen, erklingt häufig auch zur Gabenbereitung ausführliche Orgelmusik. In Frankreich sind dafür viele Kompositionen entstanden.
Ich bin jetzt 34 Jahre Organist in Mater Dolorosa. In jedem Jahr gibt es etwa 60 Sonn- und Feiertage, die mit Orgelwerken geschmückt werden sollen. Auch bei nicht kleinem Repertoire und bei fleißigem Üben habe ich in dieser langen Zeit natürlich viele, viele Wiederholungen gehabt. Wer schon lange regelmäßig in Mater Dolorosa zur Kirche kommt, kann dadurch viele bedeutende Orgelmusik im Ohr haben.
Wenn ich zur Kommunion eine Komposition von Bach, Mendelssohn oder Reger spiele, wird sie zurecht als meditative Musik wahrgenommen. In Choralbearbeitungen von Bach ist oft zugleich viel an theologischer Aussage enthalten, wie in einer langen Predigt. Natürlich kann das niemand ohne Erklärung bemerken. Da geht es uns wie bei den Fenstern in den gotischen Kathedralen, deren Aussagen wir schon optisch kaum erfassen können. Dort wie in der Musik sollen wir aber wissen und möglichst auch fühlen, wie hier ein tiefer Sinn gestaltet ist.
Am Ende der hl. Messe erklingt meist eine Komposition von Bach, Buxtehude, Mendelssohn, Reger oder von anderen Komponisten. Die Werke für das Orgelnachspiel müssen liturgisch zum Sonntag oder zum Fest passen und zu der Funktion des Ausklangs des Gottesdienstes und dabei nicht wesentlich länger als 5 bis 6 Minuten sein. Größere Werke sind dann den Orgelkonzerten vorbehalten. Viele Gottesdienstbesucher erleben das Nachspiel nicht als Zeichen zum Hinausgehen, sondern hören mit Freude dem gebotenen Orgelwerk zu und nehmen es zum Anlass einer abschließenden inneren Sammlung und Meditation. Seit etwa 10 Jahren wird in den Vermeldungen häufig die Komposition angesagt.
Als Organist habe ich mich natürlich zuerst um die Qualität der Musik zu kümmern und ich freue mich, wenn die Mühe aufgeht. Noch schöner ist es, wenn auch die liturgische Intention verstanden wird, so wie es Kardinal Meisner noch als unser Bischof im Vorwort zur Neuauflage unseres Gesangbuches geschrieben hat:
„Das Gotteslob befreit den Menschen aus aller Engherzigkeit und hebt ihn über sich selbst hinaus und lässt ihn teilhaben an der Größe Gottes.“
Bach hat in seinen vielen und ungemein vielfältig gestalteten Choralbearbeitungen Musik geschaffen, die auch ohne Kenntnis des inhaltlichen Bezuges sinnvoll und verständlich ist; darüber hinaus ist durch die Verwendung der Melodie des Kirchenliedes natürlich zugleich eine außermusikalische Bedeutung gegeben. Wenn eine bekannte Melodie deutlich hörbar erklingt, wird der Hörer den Text unmittelbar assoziieren. Durch den musikalischen Charakter des dazu komponierten Tonsatzes - den Affektgehalt, wie es damals hieß - und durch spezielle musikalische Maßnahmen, die bisweilen die ganze Gemeinde, bisweilen aber nur die besonders Kundigen deuten konnten, ist Bach in vielen Kompositionen zugleich zu einem Erklärer des theologischen Gehaltes des Liedes und damit zu einem Prediger geworden. Die Kirchenmusik war in diesem Verständnis also oft auch eine Verkündigung wie die Predigt, nur daß sie neben dem Verstand deutlich auch das Gefühl ansprechen konnte, und zudem noch viel unmittelbarer.