Von Markus Bautsch
Der Neapolitanische Sextakkord ist ein Sextakkord, der musiktheoretisch meist als Akkord der vierten Stufe der Molltonleiter beziehungsweise als stark wirkende Erweiterung des Subdominantakkords der Molltonart mit einer übermäßigen Quinte gedeutet wird.
In der Musik taucht der Neapolitanische Sextakkord recht häufig in der Barockmusik und bei den Komponisten der Wiener Klassik auf. Seine Wirkung wird oft als dramatisch beschrieben und empfunden, und er wird häufig und gerne auch verwendet, um leid- oder schmerzvolle Affekte hervorzurufen.
Hier wird an einigen Beispielen beschrieben, wo der Affekt dieses Akkordes auch schon im Gregorianischen Gesang hervorgerufen wird.
Außerdem wird gezeigt, wie unterschiedlich der Neapolitanische Sextakkord in verschiedenen Molltonarten in der in der Renaissance und im Frühbarock vorherrschenden mitteltönigen Stimmung klingt.
Der Gregorianische Choral wird in der Regel einstimmig, unbegleitet und in pythagoreischer Stimmung vorgetragen und kennt keine Tonarten mit Vorzeichen. Da die absolute Tonhöhe nicht vorgegeben ist, sind die Affekte, die bei mitteltöniger Stimmung gegebenenfalls durch verschiedene Basistöne verschieden ausfallen können, beim Gregorianischen Gesang nicht vorhanden.
Das gregorianische Te Deum soll bereits um 400 entstanden sein und wird den beiden Kirchenvätern Ambrosius von Mailand und Augustinus von Hippo zugeschrieben. Die Melodie von diesem Hymnus ist im Deuterus überliefert. Im Deuterus (III. und IV. Ton mit dem Grundton e) wird der Affekt des Neapolitanischen Sextakkords auch ohne Alteration durch die erste Umkehrung des Dreiklangs auf der zweiten Stufe (F-Dur) gebildet.
Im folgenden wird die Melodie aus dem gregorianischen Te Deum an der Textstelle „…quos pretioso sanguine redemisti. Aeterna fac…“ untersucht. Die Temperatur der Tonbeispiele ist pythagoreisch.
Diese Textstelle befindet sich im Vers:
Te ergo quaesumus,
tuis famulis subveni,
quos pretioso sanguine redemisti.
Aeterna fac cum sanctis tuis in gloria numerari.
Diesen Vers hat Romano Guardini folgendermaßen ins Deutsche übersetzt:
Dich bitten wir denn,
komm deinen Dienern zu Hilfe,
die du erlöst mit kostbarem Blut.
In der ewigen Herrlichkeit zähle uns deinen Heiligen zu.
Bei diesem Ausschnitt ist unter Berücksichtigung des Kontextes mit dem Grundton e für heutige Ohren die Harmonisierung mit den vier Akkorden der folgenden Kadenz denkbar:
Zusammen mit der Melodie ergibt sich das folgende Klangbild:
Eine andere Harmonisierung der Melodie ist natürlich auch möglich, wie zum Beispiel auch die funktionstheoretische Deutung von a-Moll als Subdominante, von F-Dur als Subdominantgegenklang und von C-Dur als Tonikagegenklang. Jedenfalls ist die plötzliche Rückung der gregorianischen Melodie vom Grundton e zum Ton f sehr markant und hebt dadurch die Textstelle „Aeterna fac“ („In der ewigen Herrlichkeit“) im besonderen Maße hervor.
Siehe auch Über Kontrafakturen gregorianischen Repertoires - Te Deum
Das Graduale „Exsurge“ ist der Zwischengesang vom dritten Fastensonntag. Auch dieses Stück ist im Deuterus (III. Ton) gesetzt. Das Responsorium hat den folgenden Text (Psalm 9, Vers 20):
Exsurge Domine,
non praevaleat homo:
iudicentur gentes in conspectu tuo.
Die Übertragung ins Deutsche lautet:
Erhebe dich, Herr,
damit nicht der Mensch triumphiert,
und die Völker gerichtet werden vor deinem Angesicht.
Im Folgenden wird die Melodie nach dem Graduale Novum an der Textstelle „iudicentur gentes“ („damit die Völker gerichtet werden“) ebenfalls in pythagoreischer Stimmung untersucht.
Zum besseren Nachvollziehen wurde diese Melodie mit zwei sich vollständig aus der Melodie ergebenen Begleitakkorden ergänzt:
Nachdem die Melodie zunächst einen a-Moll-Akkord umspielt, wechselt die Harmonie beim Wort „gentes“ abrupt zu einem abwärts gebrochenen Neapolitanischen Sextakkord in B-Dur, wodurch eine gewissermaßen abschreckende Dramatik entsteht.
In den folgenden Beispielen in verschiedenen Molltonarten wird der Neapolitanische Sextakkord jeweils als sechster, ausgehaltener Akkord in der folgenden Kadenz mit acht Akkorden dargestellt:
Nur bei den Grundtonarten d-Moll, a-Moll, e-Moll, fis-Moll und cis-Moll sind in dieser Kadenz in der mitteltönigen Stimmung keine dissonanten großen Terzen zu hören. Die Quinten sind zwar nicht so rein wie bei der pythagoreischen Stimmung, dennoch ist die Abweichung nur sehr gering, so dass fast ideal konsonante Dreiklänge entstehen.
In der mitteltönigen Stimmung kommt es insbesondere bei den B-Tonarten jedoch zu ganz verschiedenen Wirkungen der Akkorde und auch des Neapolitanischen Sextakkords, was anhand der folgenden Beispiele verdeutlicht werden soll. Die Neapolitanischen Sextakkorde sind in den Akkordfolgen jeweils fett hervorgehoben.
Das As in f-Moll und das Des in b-Moll und Ges-Dur, sowie das Ges in Ges-Dur sind viel höher als die klingenden Gis, Cis und Fis der mitteltönigen Stimmung. Schon die Grundtonart f-Moll klingt daher unrein und wurde daher in der Renaissance und im Frühbarock für Tasteninstrumente sehr selten verwendet.
Das As in f-Moll und das Des in Des-Dur sind viel höher als die klingenden Gis und Cis der mitteltönigen Stimmung. Sowohl die Subdominante f-Moll als auch der Neapolitanische Sextakkord Des-Dur klingen daher unrein und außergewöhnlich.
Johann Sebastian Bach verwendet diesen Neapolitanischen Sextakkord am Ende seiner Passacaglia c-Moll (Bach-Werke-Verzeichnis 582), die er um 1710 für die Orgel komponiert hat. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass zu dieser Zeit viele Orgeln in Norddeutschland noch mitteltönig gestimmt waren, und der Neapolitanische Sextakkord daher bei Aufführungen von Kompositionen in c-Moll auf solchen Orgeln tatsächlich so außergewöhnlich klang.
In der Kadenzfolge in g-Moll taucht beim Neapolitanischen Sextakkord As-Dur die sogenannte Wolfsquinte auf, die viel zu groß ist und daher deutlich dissonant klingt. Alle anderen Akkorde haben reine große Terzen.
Johann Sebastian Bach verwendet diesen Neapolitanischen Sextakkord in seinem Choralvorspiel „Nun komm der Heiden Heiland“ (Bach-Werke-Verzeichnis 659), das er wie die Passacaglia c-Moll (siehe oben) ebenfalls um 1710 für die Orgel komponiert hat. In der folgenden mitteltönig aufgenommen Bearbeitung dieses Werkes für Klavier durch Ferruccio Busoni taucht dieser As-Dur-Akkord nach 2:44 Minuten auf:
Bei der Grundtonart d-Moll klingen in dieser Kadenz ausschließlich reine große Terzen.
Die Toccata und Fuge d-Moll (Bach-Werke-Verzeichnis 565) ist eines der bekanntesten Orgelwerke von Johann Sebastian Bach, in dem er den Neapolitanischen Sextakkord in der Fuge einsetzt. Diese Komposition stammt aus den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts.
Bei der Grundtonart a-Moll klingen in dieser Kadenz ebenfalls ausschließlich reine große Terzen.
Schon 1595 hat beispielsweise der italienische Komponist Carlo Gesualdo in der Schlusskadenz seines in der Grundtonart a-Moll stehenden Madrigals Languisco e moro (Drittes Madrigalbuch, Nummer 44) einen Neapolitanischen Sextakkord eingesetzt, der interessanterweise zwischen zwei Tonikagegenklängen auf F-Dur eingebettet ist:
Die Grundtonart e-Moll ist die dritte Tonart bei der in der Kadenz ausschließlich reine große Terzen klingen.
Bei der Kadenzfolge in h-Moll ist das Ais beim Dominantseptakkord Fis-Dur-7 deutlich zu hoch, weil das B der mitteltönigen Stimmung klingt. Alle anderen Akkorde, insbesondere der Neapolitanische Sextakkord C-Dur haben reine große Terzen.
Beim Eis im Cis-Dur-7-Akkord kommt es zur enharmonischen Verwechslung mit dem F der mitteltönigen Stimmung; die große Terz cis-eis ist wie alle großen Terzen der anderen Akkorde dennoch rein.
Das Gleiche wie für fis-Moll gilt auch für die Grundtonart cis-Moll (Vorzeichen: fis, cis, gis, dis), wo es beim His im Gis-Dur-7-Akkord zur enharmonischen Verwechslung mit dem C der mitteltönigen Stimmung kommt.
Bei den von der mitteltönigen Stimmung weiterentwickelten temperierten beziehungsweise wohltemperierten Stimmungen und bei der gleichstufigen beziehungsweise gleichschwebenden Stimmung sind die Unterschiede bei den Konsonanzen weitgehend oder sogar vollkommen unabhängig von der Wahl der Grundtonart.
Für Relativhörer, die keine absolute Tonhöhe wahrnehmen können, wird der von einem Neapolitanischen Sextakkord hervorgerufene Affekt hierbei im Gegensatz zur mitteltönigen Stimmung also nicht von der Grundtonart beeinflusst.
Januar 2013